Das geschlechtergerechte Neutrum
Derzeit sind über zwanzig Möglichkeiten und Varianten der geschlechtergerechten Gestaltung deutscher Sprache in Gebrauch. Alle diese Formen werden letztlich allerdings abgelehnt, entweder von der Gesellschaft für deutsche Sprache, dem deutschen Rechtschreibrat oder von Verbänden der vielen Millionen in Bezug auf Sprache benachteiligter Menschen wie Seh- oder Hörgeschädigte und Menschen mit Leseschwäche. Zudem bringen viele Formen eine binäre Geschlechtervorstellung zum Ausdruck, die mit dem Beschluss des Deutschen Bundesverfassungsgerichts 2017 obsolet wurde.
In diesem Artikel wird die Problematik eingehender behandelt und durch Quellen belegt, auf Basis der identifizierten Erfordernisse eine Alternative für die geschlechtergerechte bzw. geschlechtsneutrale Gestaltung deutscher Sprache logisch hergeleitet, mit ähnlichen Ansätzen verglichen und schließlich gegen andere Varianten geprüft. Das so entwickelte geschlechtergerechte Neutrum besticht durch Einfachheit, Konsistenz und minimalen Eingriff in den üblichen Sprachgebrauch. In der weiteren Diskussion um das Thema “Gendern” ist es zu berücksichtigen.
Zum Artikel im PDF-Format: Neutrum.pdf
Donaueschingen im Dezember 2024
Inhaltsverzeichnis
Ausgangslage
Regeln
Vorangegangene Arbeiten
Prüfung
Fazit
Quellen
Ausgangslage
Es gibt heute einen ganzen Strauß von Möglichkeiten, unsere deutsche Sprache geschlechtergerecht zu gestalten. Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) führt mittlerweile über 20 Varianten und Untervarianten auf (GfdS, 2020). Derzeit existiert allerdings noch keine allgemein akzeptierte Form. Das Feld ist offen für neue, bessere Vorschläge. Es existiert auch kein Gremium, welches eine Form für den Gebrauch als verbindlich festlegt. Wohl aber haben verschiedene Gremien einen Großteil der bekannten Möglichkeiten bereits als nicht empfehlenswert beurteilt. Von der GfdS selbst werden nur folgende drei Varianten empfohlen:
- die Doppelnennung, die Schrägstrichlösung und Ersatzformen.
Binnenmajuskel, Gendersternchen, Doppelpunkt usw. werden alle gänzlich zurückgewiesen. Aber auch die Empfehlung ist explizit nur dann gegeben, wenn von einer zweigeschlechtlichen (binären) Gesellschaft ausgegangen wird. Mit dem Beschluss des Deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 10.10.2017 (BverfG, 2017) ist aber die Sichtweise, es gebe nur zwei Geschlechter, obsolet geworden.
So scheitern also auch die Empfehlungen der GfdS. Zwar wird bei Ersatzformen nicht versucht, alle Geschlechter explizit zu inkludieren, sondern unter Vermeidung des Bezugs auf Geschlechter darzustellen, dass das Geschlecht irrelevant ist (Bsp.: Studierende). Aber nicht nur, dass manche Ersatzformen nicht sinnvoll gebildet werden können (Bsp.: Autor), weshalb es dann erforderlich wird, auf sogenannte Fluchtwörter (Bsp.: Schriftstellende) auszuweichen, im Singular werden dann trotzdem wieder nur zwei Geschlechter sichtbar:
- der oder die Studierende
Für die Beurteilung der Varianten zieht die GfdS die Kriterien des Rates für deutsche Rechtschreibung (RfdR) heran, anhand derer die Eignung einer geschlechtergerechten Sprache gemessen werden kann. Demnach sollte sie
- sachlich korrekt sein,
- verständlich und lesbar sein,
- vorlesbar sein (mit Blick auf die Altersentwicklung der Bevölkerung und die Tendenz in den Medien, Texte in vorlesbarer Form zur Verfügung zu stellen), Rechtssicherheit und Eindeutigkeit gewährleisten,
- übertragbar sein im Hinblick auf deutschsprachige Länder mit mehreren Amts-und Minderheitensprachen (Schweiz, Bozen-Südtirol, Ostbelgien; aber für regionale Amts- und Minderheitensprachen auch Österreich und Deutschland),
- für die Lesenden bzw. Hörenden die Möglichkeit zur Konzentration auf die wesentlichen Sachverhalte und Kerninformationen sicherstellen.
Außerdem betont der Rat, dass geschlechtergerechte Schreibung nicht das Erlernen der geschriebenen deutschen Sprache erschweren darf (Lernbarkeit).
In seiner Sitzung am 26.03.2021 hat der RfdR erneut ausdrücklich „… die Aufnahme von Asterisk („Gender-Stern“), Unterstrich („Gender-Gap“), Doppelpunkt oder anderen verkürzten Formen zur Kennzeichnung mehrgeschlechtlicher Bezeichnungen im Wortinnern in das Amtliche Regelwerk der deutschen Rechtschreibung zu diesem Zeitpunkt nicht empfohlen“ (RfdR, 2021). Diese Auffassung hatte er 2023 erneut bekräftigt und ausführlich begründet (RfdR, 2023).
Es darf nicht vergessen werden, dass es noch weitere benachteiligte Gruppen in unserer Gesellschaft gibt, welche bei der Diskussion um geschlechtergerechte Formulierungen berücksichtigt werden müssen. Ihre Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen sollte bei einer Umgestaltung der Sprache nicht weiter in Mitleidenschaft gezogen werden. Solche Gruppen sind beispielsweise
- Menschen mit Sehbehinderung und blinde Menschen. Diese sind auf Screenreader angewiesen, welche Texte am Computer in gesprochene Sprache umwandeln oder auf einer Braille-Zeile ausgeben. Die Zahl der Betroffenen in Deutschland wird, je nach Berechnungsmethode, zwischen ca. 600.000 und 1,2 Millionen angegeben (DBSV, 1/2021)
- Menschen mit einer Beeinträchtigung des Hörsinns. 19 % der deutschen Bevölkerung über 14 Jahre sind hörbeeinträchtigt (DSB, 2021)
- Menschen mit einer Beeinträchtigung des Hörverständnisses. Etwa 2-3% aller Kinder zeigen Probleme mit der zentral-auditiven Verarbeitung auf, die Interpretation des Gehörten ist erschwert (DBL, 2020)
- Menschen mit Schwierigkeiten bezüglich des Leseverständnisses. 6,2 Millionen Menschen oder 12,1 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung können in Deutschland nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben. Bei weiteren 10,6 Millionen Menschen oder 20,5 Prozent der Erwachsenen tritt fehlerhaftes Schreiben selbst bei gebräuchlichen Wörtern auf. (BMBF, 2019)
- Menschen, die Deutsch als Fremdsprache erst erlernen. Derzeit sind dies weltweit mehr als 15,4 Millionen (AA, 2020) Vor diesem Hintergrund erhalten die Forderungen des RfdR nach Verständlichkeit, Lesbarkeit, Vorlesbarkeit, Lernbarkeit und Konzentration auf Kerninformationen besonderes Gewicht.
Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e.V (DBSV) beispielsweise schreibt dazu: „Gendern durch Sonderzeichen und Typografie, Beispiele:
- Mitarbeiter_innen, Mitarbeiter/-innen, MitarbeiterInnen, Mitarbeiter*innen, Mitarbeiter:innen
ist nicht zu empfehlen.“ (DBSV, 3/2021)
In Frankreich ist seit 2017 in den Ministerien und seit Mai 2021 auch in Schulen und Bildungseinrichtungen die Nutzung der gendergerechten Schriftsprache untersagt. Analog zum Genderstern in Deutschen kommen dabei Punkte im Wortinneren zum Einsatz. Das Lesen sowie das Erlernen der französischen Sprache werden dadurch behindert, insbesondere Menschen mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche tun sich damit schwer, so die Begründung. (FAZ, 2021)
Die Sinnhaftigkeit einer Veränderungen des Sprachgebrauchs zur Unterstützung der Geschlechtergerechtigkeit soll in diesem Artikel nicht diskutiert werden, hier gibt es stark divergierende Ansichten unter Sprachwissenschaftlern. Es ist aber festzuhalten, dass die gewachsene Sprache wohl die Kriterien des RfdR zu erfüllen scheint. Veränderungen sollten, gemessen an diesen Kriterien, keine Verschlechterungen darstellen. Somit scheint es empfehlenswert, Eingriffe sehr behutsam vorzunehmen. Die Fülle an gescheiterten Versuchen, die Sprache im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit zu reglementieren, macht dies sehr deutlich.
In der Folge wird gezeigt, wie eine simple und logische Vorgehensweise zu einem tragfähigen Ansatz bei minimalen Änderungen führt.
Regeln
Im Kern geht es bei der geschlechtergerechten Sprache um das generische Maskulinum, mit dem bislang sämtliche Geschlechter erfasst werden, was aber auch mit dem männlichen Geschlecht assoziiert wird (Wikipedia, 2021). Es wird Ersatz gesucht. Wenn in der Wahrnehmung das Maskulinum alle Geschlechter außer dem männlichen, das Femininum alle außer dem weiblichen ausschließt, bleibt aber im Deutschen eine weitere Option, die gleichberechtigt verankert ist und natürlich verwendet wird: das Neutrum. Das Argument, dass es nicht für Menschen gebraucht werden sollte, lässt sich sehr schnell mit dem Verweis auf das im Sprachgebrauch übliche Individuum, das Genie, das menschliche Wesen, das Kind und das Mitglied zerschlagen. Diese Begriffe sind geschlechtsneutral und für jeden Menschen angebracht (ggf. sogar aufwertend), ohne irgendein Geschlecht in der Wahrnehmung auszuschließen oder abzuwerten.
Statt „der“ oder „die“ ist beim geschlechtergerechten Neutrum also der Artikel „das“ zu verwenden, sowie die entsprechenden neutralen Pronomen. In der deutschen Sprache sind nun aber nicht nur Artikel und Pronomen mit Geschlechtern versehen, sondern auch Bezeichnungen werden dem Geschlecht entsprechend variiert. Die dabei entstehenden Formen schließen einander und auch alle anderen Geschlechter aus:
- der Student, die Studentin
Das geschlechtergerechte Neutrum kann in den meisten Fällen einfach gebildet werden, indem von der Wortendung „in“, welche maskuline Nomen in die feminine Form moviert, nur das „i“ verwendet wird, und dadurch eine zur Hälfte movierte Zwischenform entsteht:
- das Studenti
Der Plural wird, wie im Deutschen für Wörter üblich, die auf a, i, o oder u enden, durch Anfügen eines „s“ gebildet.
- die Studentis
Der Artikel „die“ für den Plural wird in der Regel nicht mit dem weiblichen Artikel verwechselt, weshalb kein Bedarf zu bestehend scheint, hier ein neues Konstrukt zu entwerfen.
In manchen Fällen unterscheiden sich die maskuline und die feminine Form durch zusätzliche Umlaute:
- der Arzt, die Ärztin
Hier kann sowohl aus der maskulinen Form Arzt abgeleitet, oder aus der weiblichen Form auf das geschlechtergerechte Neutrum zurückgeführt werden:
- das Arzti, das Ärzti
sind gleichbedeutend und können wahlfrei verwendet werden, ebenso wie die Pluralformen
- die Arztis, die Ärztis | die Baueris, die Bäueris.
Besondere Fälle
Die oben angeführten Kernregeln decken schon den größten Teil des üblichen Sprachgebrauchs ab. Es gibt aber noch einige besondere Fälle, welche die Eingangs genannten Formen geschlechtergerechter Schreibung oft gänzlich unbrauchbar machen. Auch sie finden bei Verwendung des geschlechtergerechten Neutrums auf sehr einfache Weise Berücksichtigung.
- Bezeichnungen, bei denen das biologische Geschlecht nur aus dem Genus erkennbar ist, könnten unverändert bleiben, da sie auch mit dem neutralen Artikel nicht verändert werden (Bsp: der/die/das Vorsitzende). Da die Deklination neutraler Artikel aber im Genitiv und im Dativ der Deklination des Maskulinum entspricht, herrscht dann in bestimmten Fällen Verwechslungsgefahr. Um zudem die Existenz von Geschlechtern nicht zu verschleiern und gleichzeitig alle einzubeziehen, ist auch hier konsistent das „i“ einzusetzen.
- der Vorsitzende, die Vorsitzende → das Vorsitzendi
- der Vorsitzende, die Vorsitzende → das Vorsitzendi
- Für Personenbezeichnungen mit der Endung „ling“ gibt es keine weibliche Form (mehr), hier versagen die derzeit verwendeten Formen geschlechtergerechter Schreibung. Bei konsistenter Endung „i“ des Neutrums drängt sich mit dem „i“ in „ling“ durch Verzicht auf „ng“ auch hierfür eine Lösung auf:
- Liebling, Prüfling, Häftling → Liebli, Prüfli, Häftli
- Liebling, Prüfling, Häftling → Liebli, Prüfli, Häftli
- Ist die weibliche Personenbezeichnung die Basis und die männliche wird abgeleitet, versagen die eingangs genannten Formen inklusive des Gendersterns gänzlich. Das geschlechtergerechte Neutrum ergibt sich dagegen sehr einfach aus der weiblichen Form durch Ersetzen des letzten Vokals mit dem bzw. dem Anhängen des „i“.
- Hexe, Witwe, Braut → Hexi, Witwi, Brauti
- Hexe, Witwe, Braut → Hexi, Witwi, Brauti
- Bei maskulinen Personenbezeichnungen auf -erer wird die weibliche Form ohne das abschließende „n“ verwendet.
- Wanderer, Eroberer, Zauberer → Wanderi, Eroberi, Zauberi
- Wanderer, Eroberer, Zauberer → Wanderi, Eroberi, Zauberi
- Geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen wie der Mensch, die Person, das Individuum bleiben selbstverständlich unverändert.
Vorangegangene Arbeiten
Luise Pusch
Die Begründerin der feministischen Linguistik, Luise Pusch, entwickelte bereits 1980 einen Vorschlag, der dem geschlechtergerechten Neutrum schon nahe kommt, nämlich die femininen Wortendungen abzuschaffen und das Neutrum zu nutzen.
„Barbara ist eine gute Student; ihre Professor ist sehr zufrieden mit ihr. Früher war sie übrigens Sekretär bei einer Architekt. Im Moment suchen wir noch ein zweites Gutachter für ihre Dissertation, am besten ein Dozent, das was [sic] von Hydrogeologie versteht.“ (Pusch, 1987, S.7).
Luise Pusch schlug dann aber einen anderen Weg ein. In ihrem Artikel „Totale Feminisierung“ schlug sie vor, nur noch das Femininum für weibliche und auch männliche Bezeichnungen zu verwenden. Dies als vorübergehende Maximalforderung, damit sich die Gesellschaft später auf einen Kompromiss einigt. Sie schrieb: „Der Einwand, das Femininum könnte ‘zu schade’ sein, um damit Männer zu bezeichnen, ist ernstzunehmen“ (Pusch, 1987, S.9).
Zum Gendersternchen hat Luise Pusch übrigens folgende Meinung: „Und das ist ein Fehler: Männer bekommen damit den Wortstamm und die Frauen wieder bloß die blöde Endung –innen.“ (Olderdissen, 2020)
Gernot Winter
Der Verleger schlägt auf seiner Website (Winter, 2024) das sogenannte „Generische Neutrum“ vor, das er in Unkenntnis der Vorarbeit von Luise Pusch 1993 entwickelt hat. Er hat sich mit den grammatikalischen Folgeerscheinungen beschäftigt, Deklinationstabellen erstellt, Überlegungen zum Umgang mit Pronomen angestellt und Probleme aufgedeckt. Die Kernregel besagt aber weiterhin, auf die weibliche Movierung ganz zu verzichten und lediglich konsequent den Artikel „das“ zu verwenden. Da die Deklination neutraler Artikel aber im Genitiv und im Dativ der Deklination des Maskulinum entspricht, ist dieses „generische Neutrum“ über weite Strecken nicht vom tradierten Sprachgebrauch zu unterscheiden. Das stellt zwar einen noch geringeren Eingriff in die Sprache dar als das geschlechtergerechte Neutrum, macht aber damit Frauen und nicht binäre Personen weiterhin nicht sichtbar.
Thomas Kronschläger
Der Germanist und Literaturdidaktiker an der Technischen Universität Braunschweig treibt einen dem geschlechtergerechten Neutrum ähnlichen Ansatz voran: das „Entgendern nach Phettberg“ (Kronschläger, 2020). Dabei wird ebenso konsequent der neutrale Artikel verwendet, bei den Substantiven wird jedoch einfach nach dem Wortstamm ein „y“ angehängt und im Plural ein weiteres „s“:
- das Study, die Studys
Dieser Ansatz hat trotz der vordergründigen Ähnlichkeit gegenüber dem geschlechtergerechten Neutrum Schwächen. Bezeichnungen, bei denen das biologische Geschlecht nur aus dem Genus erkennbar ist (bsp: Vorsitzende) bleiben unverändert, wodurch die bereits dargestellte Verwechslungsgefahr besteht. Beim Entgendern nach Phettberg soll hier ein „n.“ in Klammern aushelfen: „dem(n.) Vorsitzenden Bescheid geben“. Das widerspricht den Forderungen des Rates für deutsche Rechtschreibung nach Lesbarkeit und Vorlesbarkeit.
Vom Journalistinnenbund kommt aber weitere Kritik, wie die Sprecherin des Projektes „Genderleicht“, Christine Olderdissen, betont: „Die Entgendermethode nach Phettberg lässt keine Person mehr erkennen“. Durch die Reduktion auf den Wortstamm verschwindet das Geschlecht gänzlich, alle Geschlechter werden exkludiert. Das ist gerecht, geht aber „am Ziel vorbei“ (Schwarzer, 2021).
Erscheint der Unterschied zum geschlechtergerechten Neutrum vielleicht klein, so wird doch deutlich, dass Letzteres genau das Gewünschte erreicht: alle Geschlechter werden explizit inkludiert.
Zudem ist das geschlechtergerechte Neutrum leichter gleichberechtigt aus der männlichen oder weiblichen Form im üblichen Sprachfluss abzuleiten und hat zu beiden die gleiche Distanz. Es muss nicht erst der Wortstamm ermittelt werden, was teilweise schwierig und fehlerträchtig ist.
Prüfung
Das geschlechtergerechte Neutrum soll in diesem Abschnitt gegen Beispiele aus der Literatur geprüft werden, die sich mit den Möglichkeiten und Problemen der geschlechtergerechten Sprache beschäftigen.
-
Mehrfachnennung (Kubelik, 2016, 5:48)
§22 des österreichischen Bundespersonalvertretungsgesetzes: „Die Sitzungen des Dienststellenausschusses sind von der Vorsitzenden oder vom Vorsitzenden und im Falle ihrer oder seiner Verhinderung von ihrem Stellvertreter oder ihrer Stellvertreterin oder seinem Stellvertreter oder seiner Stellvertreterin einzuberufen und vorzubereiten.“
→ „Die Sitzungen des Dienststellenausschusses sind vom Vorsitzendi und im Falle seiner Verhinderung von seinem Stellvertreteri einzuberufen und vorzubereiten.“ -
Schrägstrichlösung (Kubelik 2016, 10:24)
Aus einem Deutschbuch für die Unterstufe in Österreich: „Eine/r ist Zuhörer/in, der/die andere ist Vorleser/in, eine/r liest den Abschnitt vor, der/die Zuhörer/in fasst das Gehörte zusammen.“
→ „Eines ist Zuhöreri, das andere ist Vorleseri, eines liest den Abschnitt vor, das Zuhöreri fasst das Gehörte zusammen.“ -
Ersatzform Substantivierte Partizipien (GfdS, 2020)
Anders als bei Student (Studierender), lassen sich oft keine Ersatzformen bilden, z.B. für Schüler, Kollege, Autor etc.
→ Schüleri, Kollegi, Autori -
Ersatzform Substantivierte Partizipien (Kubelik, 2015, S.96)
Ersatzformen geben nicht eine Gruppenzughörigkeit, sondern die aktuelle Tätigkeit wieder, Arbeitende sind nicht unbedingt Arbeiter oder Arbeiterinnen.
→ Arbeiteris bleiben als Berufsgruppe bestehen und Arbeitendis kann bei Bedarf davon unabhängig als substantiviertes Partizip verwendet werden. -
„Leiten Sie meine Beschwerde sofort an den Koch weiter!“ (Beispiel des Autors), wobei der Koch unbekannten Geschlechts ist, funktioniert weder mit Genderstern noch mit substantivierten Partizip, weil der deklinierte Artikel wieder geschlechtsspezifisch ist, wodurch zwangsläufig zusätzlich die Doppelnennung erforderlich wird: „… an den oder die Köch*in …“ bzw. „… an den oder die Kochende …“. Damit sind dann Kochis, die sich nicht einem der beiden Geschlechter zuordnen, explizit ausgenommen. Um zu inkludieren, kann das Gendersternchen deshalb auch zwischen die Artikel geschrieben werden: „… an den*die Köch*in …“. In den Sprechpausen zwischen „den“ und „die“ und zwischen „Köch“ und „in“ werden damit explizit diverse Geschlechter adressiert. Will das Gasti seiner Forderung durch Intonation aber Nachdruck verleihen, wird man es ihm nachsehen müssen, dass es auf den Genderstern verzichtet. Möglich ist natürlich auch das Ausweichen auf ein sogenanntes Fluchtwort: „… an die Küche …“, wodurch die Beschwerde dort aber dann vielleicht das Spüleri erreicht.
Einfach, lesbar, den Redefluss und die Intention erhaltend, besser so:
→ „Leiten Sie meine Beschwerde sofort an das Kochi weiter“ -
Beim oben bereits ausgeführten Beispiel (Pusch, 1987) ist bekannt, dass Barbara, das Professori und das Architekti weiblich sind, es können also weiter die femininen Formen eingesetzt werden, sofern das biologische Geschlecht nicht verschleiert werden muss. Das Gutachteri und das Dozenti sind aber noch unbekannt und sollen daher das geschlechtergerechte Neutrum erhalten. Der Abschnitt liest sich dann völlig natürlich so:
→ „Barbara ist eine gute Studentin; ihre Professorin ist sehr zufrieden mit ihr. Früher war sie übrigens Sekretärin bei einer Architektin. Im Moment suchen wir noch ein zweites Gutachteri für ihre Dissertation, am besten ein Dozenti, das etwas von Hydrogeologie versteht.“
Zur weiteren Prüfung folgen Beispiele, die das geneigte Leseri bitte selbst nach anderen Methoden in eine geschlechtergerechte Form zu bringen versuchen soll, und die Auflösung mit geschlechtergerechtem Neutrum
- Die Satzfolge „Die Müllers sind Mediziner. Ihre Kinder sind alle Ärzte geworden. Eltern sind generell wohl wichtige Ratgeber für ihre Kinder.“ (Vgl. Kubelik, 2015, S.103)
→ „Die Müllers sind Medizineris. Ihre Kinder sind alle Arztis geworden. Eltern sind generell wohl wichtige Ratgeberis für ihre Kinder.“ - „Wenn in einer Beziehung etwas schief läuft, neigt jeder dazu, den anderen dafür verantwortlich zu machen“ (Kubelik, 2015, S.104)
→ „Wenn in einer Beziehung etwas schief läuft, neigt jedes dazu, das andere dafür verantwortlich zu machen“ - „In einer Ehe sollen beide Partner gleichberechtigt sein“ (Kubelik, 2015, S.105)
→ „In einer Ehe sollen beide Partneris gleichberechtigt sein“ - „Frauen sind die besseren Autofahrer“ (Kubelik, 2015, S.105)
→ „Frauen sind die besseren Autofahreris“
Fazit
Das geschlechtergerechte Neutrum beseitigt elegant alle Probleme, die anderen Ansätzen innewohnen. Die Formulierungen werden nicht aufgebläht, sondern werden teilweise gar kürzer, es sind alle Geschlechter angesprochen, nicht nur zwei oder gar keines, es entfallen irritierende Zeichen, es lässt sich leicht und völlig gewöhnlich sprechen und es entstehen keine Missverständnisse oder inkorrekten Formulierungen. Hinzu kommt, dass der Sprachklang des Deutschen, häufig als sehr hart und humorlos wahrgenommen, aufgelockert und leichter wird. Es kommt ein Schweizer oder gar südländischer Einschlag dazu, der sympathisch wirkt.
Ebenso wird von Gender-Gegneris gerne ins Feld geführt, dass die Sprache durch das Gendern verarmt, weil Autoris Formulierungen ganz aus dem Sprachgebrauch streichen, um Angriffspunkte zu vermeiden. Das geschlechtergerechte Neutrum lässt alle Formulierungen weiter zu. Ist es, was sicher eine Ausnahme sein wird, doch einmal erforderlich, gezielt den Fokus nur auf das männliche oder das weibliche biologische Geschlecht zu legen, stehen die entsprechenden Formen weiterhin zur Verfügung. Das geschlechtergerechte Neutrum bereichert und präzisiert also unsere Sprache auf sehr einfache Weise.
Auch die Kritik, durch das „Gendern“ wird ständig auf biologische Geschlechter hingewiesen, auch wenn dies für den Inhalt des Textes irrelevant ist, greift beim geschlechtergerechten Neutrum nicht. Zwar wird die Existenz von Geschlechtern sichtbar, diese werden aber explizit völlig gleich behandelt. Das generische Maskulinum jedoch, das scheint mittlerweile bewiesen, weist implizit auf das männliche Geschlecht hin.
„Für den Hochschulbereich ist eine Zunahme einer geschlechtergerechten Schreibung mit Sonderzeichen im Wortinneren in systematischer Abweichung von den Regelungen im Amtlichen Regelwerk der deutschen Rechtschreibung zu beobachten. Inwieweit den Hochschulen das Recht zusteht, von der amtlichen deutschen Rechtschreibung abzuweichen, ist strittig.“ schreibt der Rat für deutsche Rechtschreibung (RfdR, 2023)
Sofern Hochschulen sich aber dafür entscheiden, eine geschlechtergerechte Schreibweise fördern zu wollen, sollte das geschlechtergerechte Neutrum zur Anwendung kommen. Wie auch bezüglich wissenschaftlicher Theorien, muss sich in einem akademischen Umfeld die einfachste Vorgehensweise durchsetzen, sofern mehrere gleichwertig erscheinende konkurrieren. Das geschlechtergerechte Neutrum ist äußerst simpel und stellt nur einen minimalinvasiven Eingriff in die Sprache dar. Folglich ist das geschlechtergerechte Neutrum für den Einsatz an Bildungseinrichtungen dringend zu empfehlen, um von dort seinen Weg in die allgemeine deutsche Sprachkultur zu finden.
Quellen
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Schwarzer, Matthias, „Ärztys“ statt „Ärzt*innen“: Ein Sprachwissenschaftler will das Gendern verändern, 2021, https://www.rnd.de/medien/arztys-statt-arztinnen-ein-sprachwissenschaftler-will-das-gendern-verandern-YPQ55WPIAFGSJHL4LGRJOSNVAI.html, Zugriff 12.5.2021
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FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Frankreich verbietet schriftliches Gendern an Schulen, 2021, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/frankreich-verbietet-schriftliches-gendern-an-schulen-17332003.html, Zugriff 17.5.2021
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